Warum seid ihr Deutschen so übervorsichtig?

Afrodeutsch

Wir lieben es einfach, unsere Ängste mit Regeln, Plänen und Versicherungen zu erdrücken. Aber wozu?

Ramana Shareef ist eine lebensfrohe Frau, die sich nicht unterkriegen lässt. Wenn die 36-Jährige begeistert ist, hebt sie die Stimme, wenn sie Sorgen hat, drängt sie sich nicht auf – lieber arbeitet sie an der Lösung.

Sie hat in ihrem Leben schon viele Wendungen erlebt und ist dabei immer auf beiden Füßen gelandet: Als erste Journalistin besuchte sie in ihrer Heimat Ghana ein Dorf, in dem angeblich Hexen lebten – und stellte fest, dass die meisten von ihnen demenzkranke alte Frauen waren. Als Chefredakteurin baute sie mit schwedischen Entwicklungshelfern in nur drei Monaten eine Radiostation samt Newsroom auf. Neun Monate nachdem sie nach Deutschland gekommen war, wurde ihr Sohn geboren – wenig später trennte sie sich von ihrem Ex-Mann und musste komplett neu anfangen.

Also hat Ramana Deutsch gelernt und arbeitet jetzt in der Medienabteilung des World Future Council. Inzwischen ist sie schon vier Jahre in Deutschland und hat sich ein neues Leben aufgebaut – nur eines hat sie noch immer nicht verstanden:

"Warum seid ihr Deutschen so vorsichtig?"

Denn statt ihr Mut zu machen oder sich mit ihr über Erfolge zu freuen, hätten die meisten Deutschen auf jeden Neustart mit Warnungen reagiert: “Das wird alles nicht so einfach!" "Hast du einen Plan B? Man weiß ja nie!" Dabei muss man doch keine Angst vor der Zukunft haben, findet die gläubige Muslima:

"Allah hat für alles einen Plan"

So viel Zuversicht scheint vielen hierzulande zu fehlen. Deutschland ist eines der Länder mit starker Neigung zur "Unsicherheitsvermeidung" – so hat der niederländische Kulturwissenschaftler Geert Hofstede in seiner Theorie der Kulturdimensionen das Bedürfnis bezeichnet, Karriere und Alltag vorhersehbar und kontrollierbar zu gestalten. Zugegeben:

Wir lieben es einfach, unseren Ängsten mit Regeln und Plänen einzudämmen. Kein Risiko ohne Kalkulation. Sicher ist sicher.

Ist das Bedürfnis zur Unsicherheitsvermeidung bei den Ghanaern vielleicht weniger ausgeprägt? Professor Katharina Schramm, die den Lehrstuhl für Ethnologie an der Universität Bayreuth innehat und auch in Ghana geforscht hat, will das so pauschal nicht beantworten: "Das Risikoempfinden eines Investmentbankers ist auch hierzulande ganz anders als das einer alleinerziehenden Mutter“, sagt sie. In Deutschland und Ghana seien einfach "andere Formen der Absicherung" am Werk.

Die meisten Ghanaer lebten in Großfamilien, deren Mitglieder sich gegenseitig versorgten und absicherten. Für die deutsche Kernfamilie aus Eltern und Kindern gelte diese Verpflichtung gegenüber entfernteren Verwandten nicht unbedingt. 

Egal, ob alltägliches Leben oder größere Investitionen: Das meiste regeln Deutsche über Sparkassen und Versicherungen.

Familiennetzwerke seien hierzulande außerdem oft als "Vetternwirtschaft" verpönt

Ramana ist somit in Deutschland mehr auf sich allein gestellt – auch wenn sie größere Chancen hat, von Banken, Instituten oder Behörden unterstützt zu werden. 

Aber, merkt die Ethnologin Katharina Schramm an, auch bei der Vergabe von Leistungen auf dem freien Markt gehe es nicht immer fair zu: Für einen Kredit etwa müssten Menschen mit geringerem Einkommen vergleichsweise viel höhere Sicherheiten bereitstellen als Großaktionäre.

Ein weiterer Faktor, der bei der Vorsicht der Deutschen eine Rolle spielen könnte: Das deutsche Recht

Das glaubt zumindest Professor Ortwin Renn. Er ist international anerkannter Risikoforscher und hat für seine Arbeit das Bundesverdienstkreuz Erster Klasse bekommen. Er muss es wissen. "Der Wunsch, alles festzulegen, zeigt sich schon in unserem stark kodifizierten Rechtssystem aus dem römisch-germanischen Rechtskreis", erklärt er: "Statt anhand von Präzedenzfällen zu entscheiden, müssen alle Eventualitäten im Voraus geregelt sein. Wenn das nicht geht, fühlen wir uns unwohl."

Und noch eine zweite juristische Tradition spielt eine Rolle: "Das Gesetz steht über dem Menschen – und zwar auch über den Mächtigen." Es soll also vor Willkür und Machtmissbrauch schützen. Daher kommt das tiefe Vertrauen der meisten Deutschen in Vorschriften und Regeln – und auch das Unbehagen, von ihnen abzuweichen.

Der Hang zu Zukunftssorgen und Risikovermeidung ist allerdings nichts speziell Deutsches, stellt Renn klar:

"In ganz Europa sind sich die Gesellschaften mit vergleichbarem Einkommen und Saturierungsgrad da relativ ähnlich. Was man hat, will man erhalten und nicht aufs Spiel setzen."

Oder, anders formuliert: Wer nichts zu verlieren hat, wagt manchmal mehr. 

Länder wie Ghana, in denen noch "Modernisierungsschübe" stattfänden, seien risikofreudiger – denn bei jeder neuen Entwicklung erwarteten die meisten, dass es dadurch mehr zu gewinnen als zu verlieren gibt.

Absicherung hat auch gute Seiten

Auf Menschen, die wie Ramana neu in das Land der Sicherheitsschuhe, Brandschutzverordnungen und Haftungsausschlusserklärungen gekommen sind, kann das manchmal befremdlich wirken. "Aber so ein System der umfassenden Absicherung hat ja auch Vorteile: Man fällt da nicht tief", meint Renn. Probleme mit der deutschen Regulierungswut hat seiner Erfahrung nach in erster Linie, wer alles richtig machen will: "Das ist unmöglich, denn die vielen Regeln sind nicht widerspruchsfrei."

An dieser Inkonsistenz des scheinbar so durchregulierten Systems scheitern auch wir Deutschen selbst oft genug. Renns Tipp lautet deshalb: "Mit einer leicht ironischen Art über den Regulierungszwang lächeln, sich damit arrangieren –  und dann so gut wie möglich durchlavieren." 

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